Ein paar Gedanken zu Job-Interviews

Nein, das ist kein Bild von Gipf-Oberfrick sondern...
Beitrag erstellt am: 13.11.21
Nächste Woche ist es wieder einmal soweit: Ein Job-Interview mit einer Bewerberin steht auf dem Programm. Und damit gehen auch die Diskussionen darüber los, wie man am besten herausfindet, ob "die Kandidatin etwas taugt", um es in den Worten eines Bekannten zu sagen. Und genau mit diesem Taugen fangen meine Probleme an. Dieses Wort suggeriert, dass man mit ein paar cleveren Fragen, meist in der Form von irgendwelchen mehr oder minder schlauen Kniffeleien, die Bewerberin auf ihr Fachwissen abklopft. Ich gebe zu: als ich noch jünger war, habe ich das auch so gemacht. Ich habe mir sehr darin gefallen, die Interview-Partner mit kniffligen Fragen und Problemen zu konfrontieren, von denen ich zum jeweiligen Zeitpunkt glaubte, eine gute Lösung gefunden zu haben. Irgendwann habe ich dann realisiert, dass es mehr darum ging, mir und den Kandidaten zu zeigen, was ich alles drauf habe - Prädikat: nutzlos!
Heute setze ich lieber auf die Frage, ob die Person zum Unternehmen und zum Team passt, ob sie lernbereit ist und Freude daran hat, stets Neues zu lernen, um es mit bereits Bekanntem und Erprobtem sinnvoll zu verbinden. Ich möchte auch herausfinden, ober er oder sie die eigenen Grenzen kennt und wie sie damit umgeht. Ich möchte wissen, wie die Bewerberin Probleme angeht, ob sie kommunikativ ist, welche Strategien sie nutzt, um schwierige Situationen zu meistern, von denen es in unserem Beruf als Software-Entwickler wahrlich mehr als genug gibt. Und ich möchte auch herausfinden, ob die Chemie stimmt, ob wir, die sich bewerbende Person und das Team, miteinander auskommen können, ob es leicht ist, sich zu mögen. Ja, mögen! Schliesslich verbringt man dann doch viele Stunden des Tages beim gemeinsamen Problemlösen, und es macht schlicht keinen Spass und ist guten Ergebnissen ein Hindernis, das jeden Tag mit einer toxischen Person zu tun (früher nannten wir solche Menschen unromantisch A....löcher), man kann fachlich top und gleichwohl eine unangenehme Person sein! Nun, all das heraus zu finden, ist nicht ganz einfach. Es braucht ein bisschen Mut und die Zuversicht in die eigene Menschenkenntnis.
Ist es also völlig egal, wie es um das Fachwissen eines Kandidaten bzw. einer Kandidatin steht? Nein, ist es nicht! Doch ein Assessment auf der Basis vorgefertigter Wissensfragen ist für mich der falsche Weg. Ich trete lieber in ein Gespräch ein, lasse die Bewerber von ihrer Arbeit erzählen und stelle dann konkrete Fragen zu Architektur, zum Testen, zu aufgetretenen Problemen, zu Vor- und Nachteilen der Lösung, zu den gelernten Lektionen, etc.

Man mag der Meinung sein, die Standardisierung über vorab festgelegte Fragen diene der Gleichbehandlung der Bewerber. Aus meiner Sicht ist dies jedoch ein Schnuller, eine gekonnte Lüge, die uns beruhigen und helfen soll zu glauben, man könne einer Bewerberin gegenüber objektiv sein - doch so läuft das nicht bei uns Menschen. Bereits in den ersten Sekunden entscheidet sich, ob wir jemanden mögen oder nicht. Und das färbt jedes noch so sachlich ausgerichtete Gespräch. Wer eine streng objektive Sicht will, der muss auf genormte schriftlich auszufüllende Fragebogen umsteigen. Das bringt allerdings den grossen Nachteil, dass man sich eines wichtigen Instrumentes beraubt: der eigenen Intuition. Aber das ist eine andere durchaus kontroverse Geschichte: Wer sich dafür interessiert, dem empfehle ich das Buch Schnelles Denken, langsames Denken von Daniel Kahneman und als Gegenpol die Werke von Gerd Gigerenzer, z.B. Bauchentscheidungen.

Aber Google macht es doch auch

In Gesprächen höre ich als Gegenargument zu meiner Haltung wiederholt: Aber Google macht das doch auch. Ja, stimmt: Google macht das. Und wir sind nicht Google! Wer zu Google will, der ist bereit, dieses Initiationsritual über sich ergehen zu lassen - ein Job bei Google ist mit Prestige versehen, man verdient gut, es macht Eindruck im CV.

Das von Google praktizierte Spiessrutenlaufen schafft bewusst eine Asymmetrie zwischen Firma und Bewerbern, sie etabliert ein Machtgefälle: Die Bewerberin wird nicht als gleichberechtigte Partnerin gesehen, sondern als Bittsteller. Wer das will, der fährt diese Schiene. Er oder sie darf sich dann aber auch nicht wundern, wenn talentierte Bewerber dankend ablehnen. Weil eben, wir sind nicht Google!

Das Bewerbungsverfahren nach Art von Google ist vielleicht noch aus einem anderen Grund eine dumme Idee: Ein ehemaliger Arbeitskollege hat dieses Prozedere erst kürzlich erfolgreich hinter sich gebracht und bei Google einen Job ergattert. Ich habe ihn gefragt, wie er das gemacht hat. Die Antwort war der Link auf eine Website, wo man für das Job-Interview trainieren kann. Und das hat er für mehrere Monate täglich gemacht, gegen Geld natürlich. Man kann das als Erfolg der freien Marktwirtschaft sehen, oder als zumindest fragwürdige Entwicklung, die den Wert eines auf der Überhöhung der eigenen Firmenkultur basierenden Einstellungsverfahrens doch merklich mindert.

Und bei uns...

Für die Bewerberin bei uns wird es übrigens ein Assessment geben, darauf hat man bestanden. Immerhin darf ich aber im Anschluss mit ihr noch ein "zwangloses Gespräch" führen, sofern sie darauf nach der Befragung überhaupt noch Lust hat.